Klinikforum zum Tabuthema Aggression in der häuslichen Pflege
In der Woche der pflegenden Angehörigen packte das Evangelische Krankenhaus Bielefeld ein heißes Eisen an, das Thema: Konflikt in der häuslichen Pflege. Hauptrednerin der Diskussionsveranstaltung in der Ravensberger Spinnerei war Gabriele Tammen-Parr, die vor 16 Jahren die Beratungsstelle „Pflege in Not“ in Berlin gegründet hat.
Rund 1,8 Millionen Menschen, das sind drei Viertel aller Pflegefälle, werden zu Hause von Angehörigen versorgt. Allein in Bielefeld sind es über 10.000 Menschen. Es beginnt liebevoll und endet häufig in Überforderung, Stress und manchmal auch blanke Aggression. Was hinter verschlossenen Türen in der häuslichen Pflege passiert, ist eines der großen Tabuthemen in unserer Gesellschaft. Ein gewichtige Grund für das Evangelische Krankenhaus Bielefeld gemeinsam mit der Neuen Westfälischen in der Woche der pflegenden Angehörigen eine Diskussionsveranstaltung anzubieten, in der das Thema auf den Tisch kam.
Ausgewiesene Expertin in Sachen Konflikte in der häuslichen Pflege ist Gabriele Tammen-Parr, die als Hauptrednerin für den Abend in der Ravensberger Spinnerei engagiert wurde. Eingebettet in eine kleine Informationsmesse von Organisationen mit Pflegeangeboten berichtete die Sozialpädagogin und Mediatorin in ihrem praxisnahen Vortrag aus ihrem bedrückenden Arbeitsalltag.
„Es gibt wenig Zahlen über Aggression und Konflikte in der häuslichen Pflege. Das ist nach wie vor ein Tabuthema und Pflege findet hinter verschlossenen Türen statt. Die paar wenigen Zahlen, die es gibt, sagen aber, dass mehr als zwei Drittel der pflegenden Angehörigen aggressive Gedanken, Gefühle oder auch Handlungen beschreiben. Wir haben jährlich mehr als 3.000 Anrufe und können die Zahlen bestätigen.“
Nach der Erfahrung von Tammen-Parr beginnt die Pflege liebevoll. „Die pflegenden Angehörigen oder Freunde sind ja keine Monster. Aber insbesondere Frauen geben oft nicht zu oder viel zu spät zu, dass ihnen der Pflegealltag zu viel wird. Sie wollen immer alles alleine schaffen“, so Tammen-Parr, die mit dieser Aussage zustimmendes Nicken aus dem Publikum erntete. Sieben Mal mehr Frauen als Männer kümmern sich zu Hause um die Eltern, einen Elternteil, Großeltern oder den Ehemann, der vom Ehepartner zum Pflegepartner geworden ist.
Video
Die Mehrzahl der Anruferinnen bei „Pflege in Not“ sind pflegende Ehefrauen und Töchter im Alter zwischen 50 und 75. Viele pflegen schon sehr lange. Durchschnittlich wird in Deutschland ein Mensch zehn Jahre zu Hause gepflegt. „Da kann man sich nicht drauf vorbereiten. Und bei diesen Zeitspannen wird die Pflegesituation lebenseinschneidend“, machte die Fachfrau aus Berlin deutlich.
In der Anlaufstelle „Pflege in Not“ rufen Hilfesuchende an, wenn es fast schon zu spät ist. Sie fühlen sich überlastet, stoßen an ihre Grenzen, körperlich wie auch emotional oder stecken mitten in Konflikten. Sätze wie: „Ich halte es nicht mehr aus!“ oder „Ich habe meine Mutter gerade wieder angeschrien!“ gehören zu den harmlosen. „Bei uns dürfen und sollen sie alles sagen, sonst kommen die ausgepowerten Pflegenden niemals aus der Spirale von Aggression und Schuldgefühlen raus.“ Tammen-Parr rät dazu, für akute Situationen eine „Notbremse“ zu überlegen, wie z. B. den Raum zu verlassen, an die Luft zu gehen oder eine Tasse an die Wand zu werfen. Langfristig ist eine Planung der Pflege das beste Konzept.
„Die Pflege eines Familienangehörigen stellt häufig das gesamte Familiensystem auf den Prüfstand. Ideal ist ein klärendes offenes Familiengespräch. Wer will und kann sich in welchem Umfang an Betreuung und Pflege beteiligen? Wer kann sich nur finanziell beteiligen? Mit wem ist nicht zu rechnen? Wie kann professionelle Hilfe eingebunden und bezahlt werden“, so Tammen-Parr.
Für Informationen zur Finanzierung war an diesem aufschlussreichen Abend in der Ravensberger Spinnerei Birgit Vogl, Leiterin der gerontopsychiatrischen Tagespflege im EvKB, als Expertin eingeladen. Sie klärte das Publikum über das aktuelle Pflegestärkungsgesetz auf, durch das gerade die häusliche Pflege gestützt wird.
„Über 80 Prozent der pflegenden Angehörigen geben zu, schwer bis extrem belastet zu sein. Aber nur 4 Prozent überlegen den zu Pflegenden in ein Heim zu geben. Wichtig wäre in dieser Situation in jedem Bundesland eine neutrale Anlaufstelle zum Thema Konflikte in der Pflege älterer Menschen einzurichten. Pflegende Angehörige leisten Enormes für unsere Gesellschaft. Sie haben unser aller Wertschätzung und Unterstützung verdient.“ Das Evangelische Krankenhaus Bielefeld würde, so Geschäftsführer Dr. Rainer Norden, der an diesem Abend in der Ravensberger Spinnerei im Publikum saß, die Einrichtung einer „Pflege in Not“-Anlaufstelle in Bielefeld unterstützen.
Bildergalerie zur Informationsmesse
Vor den beiden Vorträgen informierten Organisationen über Pflegeangebote, weitere Unterstützungsmöglichkeiten und rechtliche Rahmenbedingungen. Bitte klicken Sie auf die folgenden Bildminiaturen, um die Bildergalerie zu starten: